Neue Gegenwart® – Magazin für Medienjournalismus
Neue Gegenwart® – Magazin für Medienjournalismus – Seit 1998 publiziert von Björn Brückerhoff

Führen von Redaktionen – Von der Quadratur des Kreises und dem Wunsch nach mehr Innovation im Journalismus

Teil 3/4

Text: Marcus Bölz

Dieser Text ist in mehrere Abschnitte untergliedert, die Sie einzeln anwählen können:
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Wie viel Transparenz ist notwendig in der Führung von Journalisten?

Die Vielfalt und Geschwindigkeit der Aufgaben unserer stetig komplexer und differenzierter aufgestellten Welt erzwingt in Redaktionen dezentrale Gliederungen, schnelle Entscheidungswege, entscheidungsfreudige und selbstbewusste Mitarbeiter, Subsidiarität und delegative Ordnungen. Soweit die Theorie. Alleinherrscher, die Wissen, Macht und Kommunikationswege monopolisieren, wirken bei diesen Anforderungen aus der Zeit gefallen. Bedeutet: In einer innovationsfreundlichen Redaktionskultur wird nicht nur das Prinzip der Transparenz gelebt, sondern auch Autonomie und Partizipation gefördert. In der Praxis bedeutet dies vor allem, dass Führungskräfte ihren Mitarbeitern Spielräume und Handlungsfreiheiten geben und sogar aktiv auf diese hinweisen. Der Chef delegiert – aber er gibt dem Mitarbeiter Räume zur sinnvollen Entfaltung im Sinne des Redaktionsziels. Forschungsergebnisse von Staw und Boettger weisen darauf hin, dass beispielsweise eine teilweise offene Formulierung von Arbeitsaufgaben im Sinne der Organisation diesen Prozess positiv unterstützt. Vor allem wird so die Identifikation mit dem Arbeitgeber fundamental gefördert (Frey und Jonas 2002; Antoni 1999). Dies sind die besten Voraussetzungen, um die Organisationskreativität nachhaltig zu steigern und die geistige Mobilität der Mitarbeiter, in unserem Fall der Journalisten, zu aktivieren. Es ist also ein entscheidender Baustein hin zu einer innovationsfreundlichen Redaktionskultur.

Was passiert, wenn diese Prinzipien in einem Medienhaus nicht aktiv gelebt werden? Nickel und Krems haben bei der Analyse des Vorschlagwesens eines Unternehmens herausgefunden, dass das Erkennen von Handlungsspielräumen essenziell ist für die Bereitschaft, über neue Ideen nicht nur nachzudenken, sondern diese auch am Arbeitsplatz umzusetzen. Es gilt: Wer die Prozesse vom Chef engmaschig vorgeschrieben bekommt und dabei auch noch intensiv kontrolliert wird, verliert sehr wahrscheinlich die Bereitschaft, neue Ideen zu entwickeln (Nickel und Krems 1998). Solche Führungskulturen wirken aus der Zeit gefallen, weil Arbeit heute insbesondere bei formal hoch ausgebildeten Kräften wie Journalisten im Regelfall nicht mehr mit Plackerei, Mühsal, und Unterjochung vonseiten des Chefs oder gar des Arbeitgebers konnotiert ist.

Arbeit wird vielmehr als Baustein der individuellen Selbstentfaltung erfahren. In der Praxis heißt dies: Kompetente Journalisten müssen häufig gar nicht mehr motiviert oder gar angetrieben werden. Sie haben bereits von sich aus eine positive Haltung zu ihrer Aufgabe und wollen gestalten und veröffentlichen. Aber dann sollte man sie es auch tun lassen. Ein Blick in die Lerntheorie zeigt, dass Korrektur und Lob zentrale Faktoren der Motivation sind (Butler und Nisan 1986). Aber Obacht: Um tatsächlich ein konstruktives Feedback geben zu können, benötigen Führungskräfte eine entsprechende fachliche und kommunikative Kompetenz. Es bleibt somit die Frage, auf welcher inhaltlichen Basis und in welcher kommunikativen Verpackung Lob und Korrektur von der Führungskraft vermittelt werden.

Nicht immer sind die Arbeitsergebnisse in Redaktionen so, dass Vorgesetzte berechtigt die Personalführungsgespräche in nicht endende Lobesarien umwandeln müssen. Es benötigt eine fachlich fundierte Kritik, um besser zu werden. Die Ergebnisse von über hundert arbeitspsychologischen Studien zu diesem heiklen Thema belegen klar, dass als Orientierungshilfe bei dieser Führungsaufgabe das Prinzip der positiven Wertschätzung besonders zu erwähnen ist. Dieses Prinzip geht auf die humanistische Schule von Carl Rogers zurück, der 1959 erstmalig sein Konzept veröffentlichte (Rogers 1959). Demnach haben Menschen den Wunsch, ehrlich geachtet, respektiert und positiv wertgeschätzt zu werden. Dieses Grundklima sollte der Vorgesetzte als Kommunikationsbasis herstellen. Für die journalistische Praxis gilt: Dies bedeutet dann in einem nächsten Schritt, objektiv und fair Redaktionsprozesse und -ergebnisse zu analysieren und dabei Stärken und Schwächen im Klima des gegenseitigen Vertrauens offen auszusprechen.

Die Frage bleibt: Können Lob und Korrektur Innovationen in Redaktionen lostreten? Grundlage hierfür ist laut der Organisationspsychologie eine positive Bewertung von Verbesserungsvorschlägen und Anerkennung für kreatives und innovatives Denken. Die Relevanz des Konstrukts der Wertschätzung nach Rogers erkennt man beispielsweise in seiner zentralen Position als eines von vier Basiskomponenten der transformationellen Führung nach Bass (Bass 1998). In zahlreichen Studien konnten valide Belege identifiziert werden, dass das Wertschätzungsprinzip einen positiven Einfluss auf die Arbeitsleistung von Arbeitnehmern generell hat. Dabei ist ein interessantes Detail immer zu bedenken: Einzig Führungskräfte, die selbst ein gesundes Selbstwertgefühl besitzen und über eine einigermaßen kongruente Selbst- und Fremdwahrnehmung verfügen, können ihrerseits professionell Selbstvertrauen, Kritik, Lob oder Möglichkeiten zur Partizipation vermitteln (Frey et al. 2006).

Die Leistung von Menschen in Führungsverantwortung besteht häufig auch darin, Kongruenz zwischen verschiedenen, teilweise gegenläufigen Interessen herzustellen. Dabei helfen gemeinsam im Gespräch verabredete Zielvereinbarungen. Mit ihrer Hilfe sollen die Produktivität, sowie die Mitarbeiterentwicklung effektiv gefördert werden.

Die Praxis in den diversen Redaktionen zeigt aber auch, dass solche Verabredungen ein sehr sinnvolles Instrument sein können, um Unter- oder Überforderungsprozesse im generellen Workflow sichtbar zu machen. Locke und Lattham haben sich mit Fragestellungen rund um das Thema beschäftigt und konnten valide belegen, dass Ziele im besten Fall klar und anspruchsvoll formuliert sein müssen, um einen positiven Effekt für die Sportredaktion zu erzielen (Locke und Latham 2002). Solche Ziele sollten messbar ausformuliert sein. Übrigens: Die Festlegung auf Ziele in Medienhäusern ist kein basisdemokratischer Prozess. Aber das schlichte Diktieren von Zielen ist wenig zielführend. Die Organisationspsychologie hat belegt: Der Mitarbeiter muss sich mit dem Gesamtprozess verbunden fühlen. Führungskräfte müssen somit, wenn sie solch ein Führungsinstrument einsetzen möchten, auch mit sinnvollen Argumenten überzeugen können. Dies hat ebenfalls etwas mit der Kommunikationskultur zu tun.

Wenn beispielsweise die mittlere Führungsriege nicht die Kompetenz besitzt, generelle Organisationsziele in Führungsgesprächen überzeugend formulieren zu können, so ist solch ein Führungsinstrument für die Gesamtorganisation in einem hohen Maße gefährlich. Was hat dies mit dem Thema Innovation und Führung zu tun? Ein Blick in eine andere Branche: Laut Frey deklarieren Firmen wie beispielsweise Porsche Innovation als klares Ziel und belohnen die Erreichung von (messbarer und offensichtlicher) Innovation als Teil der Zielvereinbarung in einem ausgeprägten Maße (Frey et al. 2006). Ein Weg für die Mitarbeiterführung im Journalismus?

Der in der Politik inflationär gebrauchte Begriff der „sozialen Gerechtigkeit“ soll hier keiner inhaltlichen Belastungsprobe unterzogen werden. Aber Fakt ist: Wo Menschen agieren wird es – bei aller positiven Bemühung um gleiche Chancen – immer auch Unterschiede geben, weil Menschen immer unterschiedliche Prägungen und Sozialisationen erfahren, die sie (zum Glück) zu unterschiedlichen Wesen machen und nicht zu uniformierten Wesen mit uniformierten Biografien. Als Führungskraft ist es die Herausforderung, die Vielfalt an Persönlichkeiten und Fähigkeiten effektiv orchestrieren zu können. Dabei kommt sie aber nicht umhin, einige Aspekte der Fairness im Umgang mit den Angestellten der Organisation zu bedenken.

Der Arbeitspsychologe Klendauer unterscheidet zusammen mit seinen Kollegen vier grundsätzliche Formen der Fairness im Arbeitskontext: Die Informationale, die Interpersonale, die Prozedurale und die Ergebnisfairness (Klendauer et al. 2006) Adams konkretisiert den Begriff der Ergebnisfairness. Ihm zufolge wird ein Ergebnis im Arbeitskontext dann als fair empfunden, wenn der eigene Einsatz und die dafür erhaltene (monetäre und nicht-monetäre) Gratifikation proportional zum Verhältnis relevanter Kollegen bewertet und kommuniziert wird (Adams 1965).

Welche Rolle kann die prozedurale Fairness bei der Führung innovativer Redaktionen führen?
Wie der Name bereits verrät, fokussiert der Aspekt der prozeduralen Fairness den Grad und die (neutralen und kompetenzorientierten) Zugangsoptionen zu Gestaltungsmöglichkeiten in Entscheidungs- und Entwicklungsprozessen. Inwieweit hatten alle Beteiligten die Möglichkeit, ihre Meinung in Redaktionskonferenzen zu formulieren und Probleme offen ansprechen zu können? Solche Fragen sind relevant, auch und gerade wie Arbeitsweisen als Ergebnis eines Innovationsprozesses verändert werden (Tyler 2000; Leventhal 1980; Thibaut und Walker 1978).

Wertschöpfendes führen im Journalismus beginnt häufig bei den wichtigsten Ressourcen: der Intelligenz, Kompetenz, Schaffenskraft und dem Willen der Redakteure. Umso wichtiger ist es, mit diesen fair umzugehen. Von einer Führungskraft wird ein höfliches, respektvolles und insgesamt verbindlich-korrektes Auftreten gegenüber seinen Mitarbeitern erwartet. Diese Aspekte fasst die Arbeits- und Organisationspsychologie unter dem Begriff der interpersonalen Fairness zusammen. Die angemessene und rechtzeitige direkte Kommunikation mit dem Mitarbeiter fällt unter den Begriff der informationellen Fairness (Colquitt 2001).

Aber: Es sind nicht nur moralische Argumentationslinien, warum Redaktionschefs fair mit ihren Mitarbeitern agieren sollen. Es rechnet sich tatsächlich auch. Cohen-Charash, Spector und Colquitt haben in Studien belegt, dass Menschen am Arbeitsplatz hochsensibel mit Ungerechtigkeitserfahrungen umgehen. Sie reduzieren in der Regel ihre Arbeitsleistung, ziehen sich zurück und lösen häufig positive emotionale Bindungen an ihren Arbeitgeber. Insbesondere der Aspekt der prozeduralen Fairness gilt in der Arbeits- und Organisationspsychologie als exzellenter Prädiktor für innovationstreibende Verhaltens- oder Sichtweisen. Dies gilt besonders für die Zufriedenheit, die Arbeitsleistung aber auch das sogenannte „Commitment“. Dies bezeichnet das innere Band, das ein Arbeitnehmer zu seiner Organisation gespannt hat. In der englischsprachigen Literatur zum Thema werden diese Faktoren auch als „Organizational Citizenship Behavior“ bezeichnet (Cohen-Carash und Spector 2001; Colquitt 2001).

Mitarbeiter entwickeln generell mehr kreative Ideen und agieren am Arbeitsplatz nachweislich innovativer, wenn sie zum Beispiel ihre Meinung sagen oder Prozesse mitbestimmen dürfen. Streicher hat dies herausgefunden und dabei belegen können, dass die sogenannte organisationale Gerechtigkeit ein wichtiger Faktor für den Innovationsgrad eines Unternehmens darstellt. Dabei ist aus seiner Sicht vor allem der Aspekt der prozeduralen Fairness relevant (Streicher et al. 2007).

Als These wäre somit für den Journalismus festzuhalten: Moderne Führung, die Redakteure zu Innovatoren entwickeln möchte, benötigt eine Orientierung an Person, Ergebnis und Situation. Unsere Gesellschaft ist heute geprägt von den Megatrends Individualismus, Globalisierung, Mediatisierung, Differenzierung und Pluralisierung. Ein starrer Führungsstil bremst redaktionelle Innovation. Für innovative Redaktionen gilt: Chefs müssen lernen, situativ führen zu können. Konkret bedeutet dies, dass Führungspersönlichkeiten ihr Agieren an der jeweiligen Situation, spezifischen Zielen und vor allem an den Charaktereigenschaften und Bedürfnissen der Adressaten orientieren. 
Neudeutsch und wissenschaftlich etwas inkorrekt spricht man von einem „androgynen Führungsverhalten“, welches Klischeebilder als typische geschlechtlich determinierte Verhaltensweisen miteinander verzahnen und so einen optimalen Mix ergeben. Als klassisch männliche Führungsattribute gelten Werte wie etwa Durchsetzungsvermögen, Nein sagen können, Härte zeigen. Unter klassisch weiblichen Führungsattributen werden Aspekte genannt wie etwa andere groß werden lassen, Fragen stellen und zulassen, zuhören können, Sich selbst zurücknehmen, als Mentor agieren. Berth hat diese Kategorien im Führungsverhalten von Dienstleistungsunternehmen untersucht. Das Ergebnis: Je mehr sogenannte weiblicher Verhaltensweisen an den Tag gelegt wurden, desto höher ist das Innovationspotential (Berth 1998). Er verknüpft diesen Aspekt mit der generellen Herausforderung der Globalisierung. Damit Organisationen die komplexen Aufgaben der Globalisierung gut meistern, spielt die Vielseitigkeit des Führungsstils eine relevante Rolle für den Erfolg. Androgyne Führungsstile eignen sich nach Berth besser, um Teams zum Erfolg zu führen.

Laut Frey und seinen Kollegen hilft es dabei, wenn sich Führungskräfte als Vorbilder begreifen: „ Führungspersonen müssen sich ihrer Funktion als Vorbild im Sinne hoher fachlicher Kompetenz und menschlicher Integrität bewusst sein. Nur dadurch können sie ein Klima des Vertrauens schaffen. Dazu gehören Aufrichtigkeit und die Fähigkeit, Wort und Tat in Übereinstimmung zu bringen. Nur dort, wo ein menschliches Vorbild vorhanden ist, wird der Mitarbeiter sich letztlich engagieren. Es ist nie nur eine Sache (zum Beispiel der Arbeitsinhalt), die intrinsisch motiviert. Sondern es sind Personen, die begeistern und motivieren. Entscheidend ist zum Beispiel, ob die Führungskraft offen für neue Ideen ist. Ob sie neue Ideen belohnt und das Team stimuliert, neue Ideen zu kreieren und umzusetzen. Gibt die Führungskraft ihren Mitarbeitern die Sicherheit, dass auch mal eine kreative Idee nicht brauchbar oder falsch sein darf? Das Vorbild der Führungskraft ist entscheidend dafür, ob Ideen generiert und umgesetzt werden – oder ob dies eben nicht geschieht“ (Frey et. al 2006).

Was passiert, wenn diese Attribute in Redaktionen nicht gelebt werden? Wenn Chefs Leistung, Kreativität und Engagement nicht fair honorieren? Das Individuum nur als Nummer gilt, kleingemacht wird, gar die Menschenwürde verletzt wird? Tatsächlich ist Mobbing oder Bossing kein unbekanntes Phänomen in Medienhäusern. Frey belegt, dass die Belastbarkeit und Leistungsbereitschaft des Mitarbeiters in solchen Fällen signifikant sinkt (Frey 1996, Frey 1998). Es liegt an der Organisation selbst, eine Kultur des Miteinanders zu implementieren und im Alltag zu pflegen. Die Unternehmenskultur hat einen direkten Einfluss darauf, ob sich Mitarbeiter an ihrem Arbeitsplatz engagieren, neue Ideen umsetzen und generieren, sogar wohlfühlen.

Welche Bausteine gehören zu einer innovativen Führungskultur in Redaktionen?
Gefordert wird somit ein szenarienbasiertes, systemisches Denken und vor allem Handeln. Talentmanagement ist dabei genauso wichtig wie eine Werteorientierung, gutes Beziehungsmanagement, Flexibilität in der Führung und Glaubwürdigkeit im generellen Agieren. Aus Sicht von Frey ist die zentrale Grundlage für innovatives Verhalten an Arbeitsplätzen die sogenannte „Center-of-Excellence-Kultur“, die ein Mix aus diversen Subkulturen und Fragestellungen darstellt (Frey, 1998; Frey et al., 2001). Frey hält diese Komponenten für absolut essentiell, um Innovation am Arbeitsplatz zu fördern:

Zuerst stellt sich die Frage, warum eine Redaktion generell eine „Kultur“ benötigt. Das Image einer Organisation entsteht oft durch die Reflexion der inneren Verhältnisse sowie der redaktionellen Produkte oder Dienstleistungen, die ein Medienhaus erzeugt. Je sichtbarer eine Organisation ist, desto präsenter wird ihre Kultur in der Öffentlichkeit verhandelt. Dabei hat man als Organisation in einer offenen Gesellschaft nicht die Möglichkeit, „keine“ Kultur zu haben und sich so versuchen, um diese Fragen herumzumogeln.

Dabei ist eines zu bedenken: Der Begriff der „Kultur“ ist ein in unserer Gesellschaft so zentraler, gar ubiquitärer Begriff, dass leicht Vagheit in der Definition an den Deutungsrändern entstehen kann. In der wissenschaftlichen Betrachtung von Organisationen wie Unternehmen, Vereine, Behörden oder andere Organisationen setzt sich bei der Frage nach der Definition ein sogenannter anthropologischer Kulturbegriff durch, der Kultur als die Voraussetzung und das Resultat der gesamten alltäglichen Lebensführung ansieht, als „Whole Way of Life“ (Williams 1958). Kultur gilt dabei als der Prozess, der Ordnung, Orientierung, Verfahrenssicherheit, Bedeutung und Sinnstrukturen in einer Gemeinschaft schafft.

Redaktionskulturen wären somit Wertegemeinschaften, die Positionen und Lebenswelten teilen. Zudem sind sie Identitäts- und Differenzgemeinschaften, deren Mitglieder sich intern über ihre Praktiken, Verfahrensweisen und Einstellungen einig werden müssen und diese vergemeinschaften, gleichzeitig sich aber nach außen abgrenzen. Zur Redaktionskultur gehört aber ebenso die Betrachtung des gesellschaftlichen Prozesses, der die Gesamtheit der Praktiken der Redaktion wie etwa ihr Finanzgebaren im Umgang mit freien Mitarbeitern, die Pflege ihrer Redaktionsräume, Stile und Werte der Berichterstattung (aber auch des Agierens untereinander), Feste, Rituale, Bräuche, Symbole sowie ihre diversen Kommunikate (wie etwa eine Mitarbeiterzeitung oder die Sprachverwendung des Chefredakteurs) umfasst. Sie merken: Das Feld der Kultur ist ein Weites und kann unmöglich hier allumfänglich dargelegt werden. 
Bedeutet: Jede Redaktion hat ihre eigene, spezifische Kultur. Für innovative Medienhäuser sollte der Fokus immer auf den Rezipienten (den Zuschauer, Leser, Zuhörer) gelegt werden. Um tatsächlich eine Kundenorientierungskultur zu etablieren ist es von hoher Relevanz, dass alle Mitarbeiter das Ziel leben, mit ihren redaktionellen Produkten, Dienstleistungen oder Prozessen höchste Kundenzufriedenheit zu erreichen. Es steigert nach Frey und seinen Kollegen den Innovationsgrad, wenn jeder Mitarbeiter erkennt, dass letztendlich der Rezipient der Arbeitgeber ist (Frey. Et. al 2006). Verknüpft ist der Gedankengang mit einer langfristigen Marktorientierung. Es gelten die Leitfragen:

Was will der Rezipient?
Was will der Markt?
Wie bewertet uns der Rezipient am Markt?

Deshalb ist es sinnvoll, wenn Redaktionen diese Fragen permanent untersuchen. Zudem ist es wichtig, stets sich als Organisation ehrlich selbst zu reflektieren. Wo liegen die tatsächlichen Kompetenzen, die man positiv seinen Kunden offeriert? Frey geht davon aus, dass eine ehrlich verstandene Kundenorientierungskultur automatisch einen Innovationsprozess anschiebt. Aber nur, wenn ernsthaft die Frage Was braucht der Leser/Zuschauer/Zuhörer heute und was in Zukunft? als Leitfrage fokussiert wird (Frey et. al 2006). Brockhoff geht sogar noch einen Schritt weiter. Aus seiner Sicht sind nur Produkte und Dienstleistungen am Markt erfolgreich, die eine tatsächliche kundenorientierte Neueinführung sind (Brockhoff 1993). Reichenwald und seine Kollegen dagegen diskutieren den Umstand, dass Innovationen häufig auch Investitionen bedeuten. Diese aber häufig notwendig sind, damit Firmen überleben (Reichenwald et. al. 2005). Übrigens: Die Kundenorientierung richtet sich bei Organisationen mit einem (zumindest teilweise) öffentlichen Auftrag wie journalistische Redaktionen vor allem darauf, notwendige Leitplanken der Qualität zu identifizieren und den professionellen Auftrag im Blick zu haben. Dazu gehört im Journalismus aus unserer Perspektive, dass die Kunden eine unabhängige Berichterstattung einfordern. Kundenorientierung bedeutet somit in dieser Branche nicht, dass ein Leser beispielsweise mit der Berichterstattung zum Thema Dopingmissbrauch in Russland nicht einverstanden ist und deshalb die Unabhängigkeit der Berichterstattung dafür preisgegeben wird.

Manche Innovationsforscher belegen, dass die Implementierung innovativer Produkte zu einer Erhöhung der Kundenzufriedenheit führt (Athanassopoulos 1999). Umgekehrt zeigen Studien signifikant, dass markt- und kundenorientierte Organisationen generell einen höheren Innovationsgrad sowie insgesamt einen höheren Organisationserfolg erzielen (Atuahene-Gima 1996, Han et. al 1998).   

Sozialkompetenz, Zielerreichung, Prozessoptimierung, Vision, Teamarbeit und Selbstreflexion: Die Anforderungen an Führungskräfte in innovativen Redaktionen sind vielfältig – und werden gerne (seriös oder weniger seriös) verglichen. Unter einer Benchmark-Kultur versteht man mehr als nur das Identifizieren sogenannter „best-practice“-Beispiele verbunden mit dem Aufstellen von Listen. Redaktionsleiter, Redakteure und ganze Abteilungen eines Medienhauses sollten wissen, wo die eigenen Schwachpunkte, aber auch Organisationsstärken liegen - und dies fernab von Selbstmarketingstrategien Einzelner. Bei einer gelebten Benchmark-Kultur geht es um das nüchterne Erkennen und Benennen von stimmigen oder nicht-stimmigen Prozessen. Ob man sich dabei an Abteilungen in seinem eigenen Haus oder Prozessen bei Konkurrenten orientiert, ist vollkommen egal. Obacht: Bloßes Kopieren geht meistens schief. Besser sind stimmige Adaptionen, die die Spezifika der eigenen Redaktion/des eigenen Bereiches integrieren.

Der irrationale Reflex auf wachsende Unsicherheit, ansteigende Komplexität und Paradoxien des Arbeitsalltags, ist häufig Angst. Insbesondere vor Veränderung. Egal ob als Abteilungsleiter oder als Leiter einer Lokalredaktion: Zukunftsverweigerung oder der Wunsch nach mehr Kontrolle sind keine Lösungen für die Probleme unserer Zeit. Dies gilt auch für Chefetagen. Eine rationale Form der Führung braucht andere Leitlinien. Die nun in diesem Text folgenden Kulturen gehen in ihrer historischen Entwicklung auf den Philosophen Karl Popper zurück und können unter dem Begriff Kulturen des kritischen Rationalismus eingeordnet werden. Sein Ansatz: Forschung sollte sich nicht am Bestätigungsprinzip (der Verifikation), sondern dem Widerlegungsprinzip (der Falsifikation) orientieren (Popper 1973). Ein Grundprinzip, welches auch auf Organisationen und die Frage des Innovationsgrades gut übertragen werden kann. Soll beispielsweise eine Hochschule oder eine Redaktion Bestehendes bewahren nach dem Prinzip „Was sich gestern bewährt hat wird sich auch morgen bewähren“? Oder gilt es vielmehr, die gesellschaftlichen Parameter und Bedürfnisse von Kunden (aber auch anderen Interessensgruppen) kritisch zu reflektieren und – so sich Situationen, Herausforderungen, Märkte wandeln – Problemlösungen zu starten? Dieser kritische Rationalismus bietet ein sehr solides Fundament, um auf der Werteebene eine innovative Basiskultur zu etablieren. Die in diesem Text folgenden Aspekte lassen sich sehr gut aus den gedanklichen Implikationen des kritischen Rationalismus ableiten.

Manch einer sieht – auch wenn das Sprichwort inzwischen abgegriffen ist – eher die Lösungen als die Probleme. Tatsächlich existieren Probleme in einer gesunden Problemlösekultur als Chancen zur Herausforderung und nicht als Freibrief zum Zaudern und Zagen. Dweck konnte in ihren Studien zur Problemlösekultur valide belegen, dass Menschen bei ähnlichen Intelligenzkapazitäten signifikant besser Probleme lösen konnten, wenn sie positiv an die Aufgaben herantreten. Positiv meint in der Arbeits- und Organisationspsychologie, dass sie sogenannte Bewältigungskognitionen fokussieren. Darunter versteht man Haltungen wie etwa: „ich bin optimistisch“, „Ich kann es“, „Ich versuche es zumindest“ oder „Nicht schlimm, wenn es nicht klappt. Irgendwann wird es gelingen“.

Demgegenüber stehen Menschen mit (so der Fachbegriff) Hilflosigkeitskognitionen, die eher das Scheitern an dem Problem ins Zentrum ihrer Reflexion stellen. Klassische Aussagen für diese Haltung sind: „Ich werde scheitern“, „Das versuche ich lieber nicht“ oder „Ich kann es nicht schaffen, da ich es noch nie gemacht habe“. (Dweck 1991). Die Praxis zeigt: Innovation entsteht häufig, wenn möglichst viele Akteure Bewältigungskognitionen fokussieren. Die Herausforderungen im redaktionellen Alltag sind mannigfaltig, die Ergebnisse könnten auch im Journalismus überprüft werden. Im Sinne Poppers ist dies vor allem in einer Kultur der kritisch-rationalen Kommunikation machbar. Die Macht des besseren Gedankens oder des besseren Arguments ist in solch einer Arbeitskultur das entscheidende Kriterium und nicht das Prinzip „Achte die Hierarchie“ oder „Ober sticht Unter“. Frey und seine Kollegen charakterisieren dies in einem Papier der Roman Herzog-Stiftung mit folgenden Worten: „In diesem Zusammenhang bedarf es einer offenen Kultur, in der die Argumente und Gegenargumente ohne Ansicht der Person, der Hierarchie, der Kultur und des Status geäußert werden können und in der es ein Ringen um das beste Argument gibt. Nur dann haben auch Argumente aus einer Minoritätsposition und aus dem Querdenken eine Chance, Gehör zu finden. Die Forschung zeigt, dass nur in einer solchen Kultur des kritischen Rationalismus die Chance für neue Ideen und deren Implementierung besteht. Für Innovationen – egal ob in Wissenschaft oder Wirtschaft – ist es nötig, dass die Beteiligten „atmen“ können, dass also nicht zu eng kontrolliert wird, sondern Freiräume in der Kommunikation bestehen. Nur durch ein Klima hierarchiefreier Kommunikation besteht die Chance eines Dialogs, in den jeder seine Argumente einbringen kann“ (Frey et. al 2006).

Was kann der Journalismus diesbezüglich lernen? Monopolisieren Sie als Redaktionseiter den Informationsfluss nicht. Ein ungehinderter offener Austausch nicht nur innerhalb der Organisation sondern auch über die Grenzen beispielsweise des Medienhauses hinweg unterstützt Innovation (Meißner 1989). Gestalten Sie Redaktionen als offene Systeme, die offen auf andere Abteilung zugehen, beispielsweise dem Marketing oder der Öffentlichkeitsarbeit eines Medienhauses offen Informationen zuspielen und so Synergieeffekte über Abteilungsgrenzen hinweg entstehen lassen.

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