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Wintersemester 2000/2001: Willkommen im Internet

Text: Petra Bäumer    Bild: © Björn Brückerhoff

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Über Neue Gegenwart
Presse

 

 

Kann eine Semesterbroschüre Spiegel für das Internet der Zeit sein? Ein kurzer, leicht verklärter Blick in die Vergangenheit.

Ich komme aus einer Bar und es hängt mir in den Haaren: Dieses „Früher“, als Rauch in den Haaren normal war. Als ich überhaupt nicht darüber nachdachte, dass es anders sein könnte. Mir der ständige Partyrauch nicht einmal auffiel. Ähnlich oder vielleicht auch ganz anders ist es mit dem Internet. Was heute so normal ist, von dem hatte ich früher keinen Schimmer. Ich begebe mich zurück in das Dickicht dieser frühen Online-Jahre: Herbst 2000, mein erstes Semester in Münster. Wir waren gerade erst am groß angekündigten Millennium-Crash vorbeigeschippert, als die Dotcom-Blase platzte. Als frisch gegründete Digitalmagazine eingestellt wurden und Printauflagen schrumpften, fing ich an zu studieren. Ausgerechnet Kommunikationswissenschaft.
Privat war „Internet“ das, womit man E-Mails schrieb, per ICQ chattete und bei Napster Musik runterlud. Ob das irgendwie illegal war: egal. Wichtiger war die Diskussion mit der Mitbewohnerin, wer jetzt ins Netz darf*. Schließlich gab es nur eine Leitung und das unweigerliche Geräusch des Modems. Und an der Uni?

Mein Gefühl sagt: Wir haben uns Gedanken gemacht, was damit passiert. Wir hatten gute Ideen, aber ganz oft keine Ahnung, was das Netz nur wenig später bedeuten sollte. Insgesamt kommt es mir beim Blick zurück unwirklich vor: Interessierte ich mich wirklich für Print-Magazine? Hatten wir weder Smartphone noch Youtube?

Die 2000er mit Zlatko
Ich brauche eine Erinnerungsstütze auf dem Weg in die Nullerjahre: Die Semesterbroschüre des Ifk – des
Instituts für Kommunikationswissenschaft Münster, Wintersemester 2000/2001. Natürlich in Druckform. Auf dem Cover: Big Brother Zlatko*. Würde man nur diese Semesterbroschüre als Spiegel des Internets der Zeit nehmen, dann sähe es recht dünn aus. Konkret erwähnt, finde ich das Internet in drei Veranstaltungen und im Vorwort. Häufiger schimmern beim Blättern durch das Heftchen Begriffe wie Cross- oder Multimedia auf, auch die Entdeckung des Reality-TVs erscheint als drängendes Thema. Fairerweise muss ich sagen: Es sind nur Ankündigungen und kurze Beschreibungen. Und so glaube ich mich zu erinnern, dass das Internet überall „ein bisschen“ Thema war. Dass wir bei Kommunikationsmodellen, Mediensystemen oder -ethik nachhakten, wie sich die Theorien aufs Netz anwenden lassen. Dass ich in der Ringvorlesung jemanden vom Lycos* lauschte. Oder dass ein Prof. beschloss, Internetquellen in Hausarbeiten bitte immer mit Screenshot anzugeben.

Potenziale, Gefahren und die Realität des Internets
So richtig aber erreichte es mich als Uni-Neuling kaum. Hing ich doch als Erstsemester im sogenannten Orientierungskurs fest und musste (gefühlt) uralte Theorien von Habermas & Co büffeln. Nur bei Marshall McLuhan blieb ich hängen. Prophezeite der verrückte Kerl doch bereits in den 60ern das Internet – zumindest so ähnlich. Ein Medium, dass unser Handeln und Denken revolutionieren würde. Etwas, das "Ausweitungen unserer Körperorgane und unseres Nervensystems" sein konnte. In der Semesterbroschüre indessen tauchen ebenfalls Internetpioniere auf. Zwei von über 30 erwähnten Magisterabsolventen des Jahres 2000 hatten das Internet zum Thema ihrer Abschlussarbeiten gemacht - trotz recht dünner Literaturlage zu Themen wie “Werbung im World Wide Web“ oder den Prognosen über neuen Medien in der Zeitung.

Alte und neue Probleme
Licht in das Nullerjahre-Dunkel bringt schließlich die damalige Institutsleiterin Miriam Meckel in der Beschreibung zur Vorlesung „Globalisierung und Kommunikation“: „Gerade die Netzkommunikation offenbart enorme Potentiale, birgt aber auch neue Herausforderungen, z.B. in Form einer digitalen Zweiklassengesellschaft (Digital Divide), einer enormen Beschleunigung und des damit verbundenen Entscheidungsdrucks. Eine Informationsgesellschaft ist nicht zwangsläufig eine informierte Gesellschaft.“

Überraschend fündig werde ich auch im Seminar „Datenbankjournalismus“. Auch wenn hier nur angedeutet wird, wie sehr die neue Informationsverfügbarkeit und -produktion sich auf klassische Journalistenrollen auswirken wird.
„Der technisch ungehinderte Zugang zu Informationen, ihre Speicherung, Verwaltung, Mehrfachverwertung und die unbegrenzt mögliche Rekombinierbarkeit […] stellen das System Journalismus vor neue Anforderungen[…]“. Ich grabe also ein wenig tiefer in meinen Kisten mit altem Uni-Material. Und mit dem damals brandneuen Erstsemester-Standardwerk „Einführung in die Kommunikationswissenschaft“, wird klar, dass natürlich schon 2000 die Auflösung von Kommunikator- und Rezipient durch das Netz aufgefallen war. Und überhaupt: Dass die angesprochenen Probleme und Fragen im Prinzip die gleichen waren wie heute. Nur dass wir diese heute anders interpretieren würden.

  •  Welche Auswirkungen hat die Beschleunigung der Kommunikation?

  • Wer übernimmt die Verantwortung in einer globalisierten Kommunikation?

  • Wie definieren wir Grenzen zwischen Öffentlichkeit und Privatheit?

  • Wer wägt (wie) ab zwischen Freiheit und Kontrolle?

  • Und welche Rolle bleibt dem Journalismus im Netz?

Dass in einem Nachschlagewerk von 1999 unter "Neue Medien" das Internet in einem Atemzug mit der CD-ROM genannt wird, treibt mir dann doch die Tränen in die Augen. Es macht mir aber auch klar: Es ist wirklich 18 Jahre her. 2000 ging es erst richtig los. Mehr Online-Standardwerke wurden veröffentlicht. Das Ifk bekam 2001 mit der Professur von Christoph Neuberger Verstärkung. Beispielsweise für die bis heute hartnäckigen Themen aus der Rubrik „Blogger vs. Journalisten vs. Online-Journalisten vs Der Rest“. Und für mich wurde aus einem ersten Ebay-Account 2001 bald ein ganzes Seminar über Online-Auktionen.

Was aber in der Tat lange nicht auftauchte, sind zwei Dinge:

  • Die Dimension, die das Netz in Smartphone-Gestalt entfalten sollte. Davon wussten mein 2000er-Ich und mein unkaputtbares Nokia 3810 nichts.

  • Social Media: Als gegen Ende meines Studium immer mehr rote StudiVZ-Bildschirme in den Computerräumen aufpoppten, hatte ich nicht geahnt, mit welcher Konsequenz Twitter, Facebook, Instagram Youtube, Whatsapp (+X) einmal zu Social Media mit einer politischen Dimension verschmelzen sollten.

Bemühe ich erneut das Bild des Partyrauchens vom Anfang, dann ist dieser Text nur ein Paffen an der Zigarette. Ein Blick auf einen beliebigen Startpunkt im Jahr 2000, der so vieles auslässt, zum Beispiel wie Blogs Standard und Online-Nachrichten schneller wurden. Wie aus „Wow, man kann Bücher online bestellen!“ einfach „alles online bestellen“ wurde. Wie sich Navigationsprogramme, Gelbe Seiten und Co in einem „Ok Google, …“ auflösten. Alles einfach so passiert?

Im Jahr 2018 haben Wifi, drei Streaming-Abos, googeln „Digital Detox“ oder checken konsterniert die letzten Crypto-Kurse. Und auch das ist nur ein Blinzeln darauf, was das Internet gerade ist und bedeutet.

Heute arbeite ich als Online- und Social-Media-Redakteurin. Auch wenn es Teil meines Jobs ist, mich mit neuen Entwicklungen zu befassen, zeigt sich bei meinem Rückblick: Der Fortschritt im Netz ist eng verzahnt mit unserem alltäglichen Gebrauch, oft hakt er sich ein wie ein lässiger Spaziergänger und ehe wir uns versehen, sind wir eine verdammt lange Strecke weitergegangen. Wenn ich jetzt an die Zukunft denke, dann freue ich mich schon darauf, wie ich diesen Text wiederfinde und denke: „Ach, 2018 – wir hatten ja keine Ahnung“.
 

Anhang für nicht Nullerjahre-Versierte

  • WG-Streit ums Internet: Ich musste tatsächlich erst die WayBackMachine von archive.org bemühen, um herauszufinden, womit ich damals so viel Zeit im Internet verbrachte: Und komme auf eine Mischung aus E-Mail, Foren oder dem jetzt.de-Tagebuch, Nachrichten-Seiten, Uni-Bibliothek, Partyfoto-Websites und dem Moorhuhn-Spiel.

  • Zlatko: Zlatko „Sladdi“ Trpkovski gehörte zu ersten Besetzung des Big Brother Containers. Zusammen mit Jürgen wurde er kurzeitig zum Reality-TV-Star. Er arbeitet heute wieder als Kfz-Mechaniker.

  • Lycos: Die Suchmaschine war ein prähistorischer Konkurrent von Google. Und mit einem unverwechselbaren Logo ausgestattet, in dem ein Hund vorkam. Der einzige Grund, warum ich mich heute noch daran erinnere. Lycos Europe existiert in der Form nicht mehr, sondern firmiert unter anderem Namen.

  • Marshall McLuhan: Selbst wenn McLuhan das Internet nicht in seiner Komplexität vorhergesagt hat.

Die Autorin



Kommunikationswissenschaft, Psychologie und Kultur, Kommunikation und Management in Münster und Málaga studiert. Beim Fluter der Bundeszentrale für politische Bildung volontiert. Arbeitet heute in Köln als Freie Redakteurin für Social Media, Online und Gedöns. Und das sehr gerne.