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 NETZWERK VERGANGENHEIT
 Geteiltes Leid ist halbes Leid
 
 TEXT:
  STEPHAN ISERNHAGEN BILD: 
    © 
    BERLINER LANDESARCHIV
 
 
 Ein Ost- und ein Westdeutscher 
    sind eng aneinander gebunden, sind sich aber nie begegnet. Ihre Leben drehen sich 
    um die Gedenkstätte Hohenschönhausen, dem Stasi-Knast in Ost-Berlin. Sie 
    erzählen vom 17. Juni und von sich selbst.
 
 2003 ist der 17. Juni 50 Jahre her. 
    In jenen Junitagen des Jahres 1953 erlebt die DDR  einen machtvollen 
    Volksaufstand, der sich gegen das harte SED-Regime richtet. Die DDR unter 
    Walter Ulbricht: Trotz Stalins Tod im März halten die DDR-Oberen an 
    ihrem stalinistischen Kurs fest. Sie beschliessen, 
    dass alle DDR-Arbeiter 10 Prozent mehr arbeiten müssen – für den gleichen 
    Lohn. Doch nach dem Tode des sowjetischen Diktators beginnt in der 
    Sowjetunion das politische Tauwetter. Walter Ullbricht und Otto Grotewohl 
    werden nach Moskau zitiert, müssen ihr politisches Programm ändern. Das 
    machen die beiden auch. An den Arbeitsnormerhöhungen halten sie aber fest. 
    Die Lage spitzt sich zu: Schon vor dem 17. kommt es zu ersten Streiks und 
    Arbeitsniederlegungen. Die Arbeiter fordern „Weg mit den Normen“. Im Verlauf 
    des 17. Junis wird aus den spontanen Streikbewegungen eine demonstrierende 
    Menschenmasse. Auf den Transparenten stehen Parolen, die bald nicht nur 
    wirtschaftliche Missstände aufgreifen, sondern politischer Couleur sind. 
    „Weg mit Ullbricht!“, „Hängt Ullbricht auf!“ und „Weg mit der Regierung!“.
 
    50 Jahre sind vergangen und 
    einige der Männer, die damals auf die Straße gingen, leben immer noch in 
    Berlin. Ihre Leben kreuzten sich am 17. Juni und dann nie wieder. Dennoch 
    sind sie auf unterschiedliche Weise gebunden an ihre Vergangenheit – Es gab 
    ein Leben nach dem 17. Juni.
 Die Opfer des 17. Juni liegen in 
    schwarzen Särgen vor dem Schöneberger Rathaus. Männer, mit denen der 
    19-jährige Herbert P. vor sechs Tagen gegen das SED-Unrechtsregime 
    demonstrierte.  Bundeskanzler Konrad Adenauer spricht zu den Trauernden. 
    Hunderte verharren minutenlang, nehmen schweigend Abschied.
 
 Ost-Berlin am 17. Juni: Gerhard 
    F. verbringt die Nacht mit acht anderen Demonstranten im geheimen 
    Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen, in einer acht Quadratmeter Zelle. Durch 
    dicke Glasbausteine schimmert nur wenig Licht. Dem 16-Jährigen ist kalt, er 
    kriecht unter Stroh und einen löchrigen Kartoffelsack. Erst vier Tage später 
    darf er sich waschen und satt essen.
 
 Nach 50 Jahren wohnen Herbert P. und Gerhard F. wie damals in Berlin. Der 
    eine im Osten. Der andere im Westen. Sie leben im geeinten Deutschland, sind 
    aber doch in verschiedenen Welten zu Hause.
 
 Alltag in Berlin
 
 Herbert P. zieht kräftig an einer Zigarette. Er sitzt in einem 20 
    Quadratmeter-Raum in der Gedenkstätte Hohenschönhausen. Die Wände sind weiß 
    gestrichen – keine Bilder,  Kunstblumen in einer grünen Plastikvase auf 
    einem wackligen Holztisch. Tief im Osten an der Genslerstraße führt Herbert 
    P. seit sieben Jahren jeden Tag bis zu vier Gruppen durch das alte 
    Stasi-Untersuchungsgefängnis. Er selbst saß in einer der Zellen ein. 1954: 
    Weil er am 17. Juni dabei war.
 
 Im Gang vor dem Aufenthaltsraum hängen Fotos jener ehemaligen Häftlinge, die 
    heute Gruppen durch die Gedenkstätte führen. An denen von Herbert P. steht: 
    „Die Zellentür klackte hinter mir zu und ich dachte: Hier kommst du nie 
    wieder raus.“ Plötzlich  trampeln 30 Schüler durch den Gang,  Herbert P. 
    schaut nicht einmal hoch. „Die Gedenkstätte ist wie ein zu Hause für mich. 
    Ich kenne jeden Raum, gehe jeden Tag durch die langen Zellentrakte. Ich muss 
    doch weitergeben, was hier passierte“, sagt der 69-Jährige.  Mit seinen 
    dunkelbraunen Augen schaut er durch das kleine Fenster. Noch immer 
    durchkreuzen rostige Gitterstäbe seinen Blick nach draußen.
 
 
  
 Den Blick nach vorn, den Kopf durch einen  Motorradhelm geschützt, so 
    knattert Gerhard F. mit seinem lilafarbenen Roller über die holprige Straße 
    am Gefängnis vorbei. Der 66-Jährige  ist auf dem Weg zum „Allee Center“, 
    einer Einkaufspassage. Dort trinkt er jeden Morgen einen Kaffee im „Backstop“. 
    Ab und zu nimmt er eine Vanilleschnecke. Am liebsten mit viel Zucker.
 
 „Meine Frau Brigitte schmeißt mich um zehn Uhr aus der Wohnung.“ 65 
    Quadratmeter teilt er sich mit ihr und Sohn Mario. Elf Stockwerke hoch ist 
    der Plattenbau. Über 40 weitere reihen sich an der Pablo-Picasso-Strasse im 
    Osten Berlins aneinander. Nur wenige Minuten entfernt liegt Hohenschönhausen 
    – jeden Tag fährt Gerhard F. an den ockerfarbenen Mauern mit dem 
    Stacheldraht vorbei. Der 17. Juni ist für ihn Vergangenheit: Die bittere 
    Zeit im Gefängnis, der Hunger, die Schläge der Stasi. „Eines Tages habe ich 
    alle meine Akten über den 17. Juni in den Müll geworfen, weil ich mich nicht 
    jeden Tag erinnern will.“
 
 Für Herbert P. ist der 17. Juni zum Alltag geworden. In seinen Führungen 
    geht er nur in Stichworten auf die Vorgeschichte ein, beleuchtet dann die 
    wesentlichen Ereignisse. Manchmal wirkt er müde, abgeschlafft. Über die 
    Haftbedingungen im Untersuchungsgefängnis spricht er ungern. Wenn er doch 
    muss, fällt es ihm schwer: Er drückt seinen Oberkörper gegen die Stuhllehne, 
    stemmt die Arme gegen die Tischkante. Das starre  Holzgestell gibt nicht 
    nach. Dann stützt er sich auf den Tisch,  zieht kräftig an der Zigarette. 
    Er  bleibt einsilbig. Mit routinierten Redewendungen wie „Die Arbeiter zogen 
    durch Berlin“ und „Der 17. Juni ist ein wichtiger Tag“ beschreibt er die 
    Ereignisse. Die Besucher, die er durch das Gefängnis führt, fragen nicht 
    nach. Sie schauen sich die Zellen und die Folterkammern an. Tourismus der 
    etwas anderen Art.
 
 Rückblick
 
 Die Arbeiter ziehen vom Stahlwerk Hennigsdorf über Tegel, die 
    Friedrichs- und Wilhelmstraße hoch. Ihre Parolen dringen in das Schlafzimmer 
    von Herbert P., reißen auch seine Mutter und seine Schwester aus dem Schlaf. 
    Der junge Maschinenschlosser ärgert sich, weil er Urlaub hat und ausschlafen 
    will. Als er aber vom Küchenfenster aus die Transparente der Arbeiter sieht, 
    folgt er neugierig den vorbeiziehenden Menschen. „Je näher wir zum Haus der 
    Ministerien kamen, desto radikaler waren unsere Forderungen.“ Durch die 
    Wilhelmstraße zieht er zum Potsdamer Platz.  Der Junge ist berauscht vom 
    Augenblick, gefangen in der Dynamik der marschierenden Menschen. Ihm wird 
    warm, er schwitzt, er stimmt ein in den Chor der Protestrufe, schreit „Hängt 
    Ulbricht auf!“ und „Weg mit der Regierung!“ Endlich kann der junge Mann aus 
    dem Berliner Westen gegen das Unrechtsregime auf die Straße gehen und sein 
    Mitgefühl zeigen für die Menschen im Osten der Stadt, den die Machthaber 
    auch den „demokratischen Sektor“ nennen.  „Denen ging es doch so dreckig.“ 
    An einer Straßenecke traut er sich, zwei DDR-Fahnen von einem Mast zu reißen 
    und sie anzuzünden. „Die haben mich einfach angelächelt.“
 
 An diesem Morgen ist auch der 16-jährige Schlosserhelfer Gerhard F. auf den 
    Straßen Berlins unterwegs. Wie Herbert P. schaut er gebannt am Potsdamer 
    Platz auf einen brennenden Lebensmittelladen. Schon am Vorabend hört er von 
    der Demonstration, sitzt mit Freunden auf einer alten Holzbank an der 
    Prenzlauer Allee unter einer großen Kastanie. Die Jungen erzählen sich 
    Witze, reißen Zoten, als ein grauer Kleintransporter durch die Straße in 
    Ost-Berlin rollt. Auf dem Dach sind zwei Lautsprecher montiert: 
    „Generalstreik“. Die Jungen wissen nicht, was das bedeutet. Trotzdem 
    schlüpft Gerhard F. am nächsten Morgen in seine braunen Schuhe, in eine 
    dunkelgrüne Lederhose und einen blauen Nicki. Er gibt seiner Mutter schnell 
    noch einen Kuss und tritt vor die Tür der kleinen Wohnung am Prenzlauer 
    Berg. Über den Lustgarten kommt er zum Potsdamer Platz. Weil Gerhard F. seit 
    wenigen Tagen Arbeit sucht, kann der Junge den 17. Juni auf der Straße 
    verbringen.
 
 „Da sind Steine geflogen“, erinnert sich Herbert P.. „Aber ich war lediglich 
    dabei, habe keine große Rolle gespielt,  kam ja aus dem Westen.“ Herbert P. 
    mag keine Details nennen. „Die anderen Arbeiter waren nicht friedlich. Klar, 
    dass auch ich dann dabei war. Steine haben aber andere geworfen.“
 
 Die Lage spitzt sich zu, von den Laderäumen grauer Kleintransporter aus 
    schießen sowjetische Soldaten über die Köpfe der Demonstranten. Die Kugeln 
    schlagen in Häuserfassaden ein. „Mir spritzte der Mörtel ins Gesicht“, sagt 
    Gerhard F. Er ist neugierig und versteht die Parolen nicht, die alle 
    grölen. Er sieht, wie aufgebrachte Arbeiter auf SED-Funktionäre zustürmen, 
    sie aus ihren schwarzen Autos zerren und in die Spree werfen. Plötzlich 
    fahren Panzer auf. „Als ich nach Hause wollte, kamen mir zwölf entgegen.“ 
    Der junge Schlosserhelfer läuft durch das Brandenburger Tor, hat Angst vor 
    den ratternden Ungetümen. Er versteckt sich in einer Ruine am Lustgarten, 
    kriecht durch Geröll und Schutt in die Kellerräume. Vom Fenster aus sieht er 
    die sowjetischen Panzer vorbeifahren. Mit Steinen verdeckt er sein Guckloch, 
    bleibt unentdeckt. Nach zwei Stunden verlässt er sein Versteck, macht sich 
    auf den Heimweg. An der Prenzlauer Straße trifft er einen großen Mann im 
    Ledermantel. An diesem Abend kommt Gerhard F. nicht nach Hause.
 
 Die Stasi verfolgt auch Herbert P., sieben Wochen lang sperren sie ihn weg. 
    Er soll bitter büßen für die Parolen, die er schrie. Doch Herbert P. hat 
    Glück im Unglück, wird nicht verurteilt. „Mit West-Berlinern sind sie 
    vorsichtiger umgegangen. Weil die Stasi keine Beweise hatte, musste sie mich 
    frei lassen.“ Dennoch: Die Zelle 29 in Hohenschönhausen hat er nicht wieder 
    betreten. „Das kann ich nicht.“ Und noch immer denkt er an den 
    „Möhreneintopf mit kleinen weißen Fleischstückchen“, den es im Gefängnis zu 
    essen gab, wenn er sich heute vom Schlachter an der Genslerstraße belegte 
    Brötchen holt. „Da waren ausgekochte Schweineköpfe drinnen.“ Lange Pausen 
    gönnt er sich nicht: „Wenn ich durch die Zellen gehe und den Menschen 
    erkläre, wie das hier früher abgelaufen ist, verarbeite ich meine eigene 
    Vergangenheit. Das ist wie ein Ventil. Ich habe Mitleid mit denen, die 
    dieses Ventil nicht haben.“
 
 Rückkehr
 
 Gestern noch hatte Gerhard F. wenig Lust, sich zu erinnern, saß auf einer 
    Couch in seiner kleinen Wohnung und verfolgte gebannt die Gerichtsshow 
    „Barbara Salesch.“ Diesen Morgen ist alles anders. Nach seinem Kaffee will 
    er über sich und seine Vergangenheit sprechen.  Hastig isst er seine 
    Vanilleschnecke im „Allee Center.“ Er ist aus der Routine des Alltags 
    geworfen und  versetzt in den 17. Juni 1953. Was er all die Jahre vergessen 
    hatte, kommt nun zurück. Er sieht einen kleinen Jungen, der in einer Zelle 
    kauert, weil er beim Protestmarsch mitlief. Er spricht davon, nicht tauglich 
    zu sein, Gruppen durch die Gedenkstätte zu führen. „Vielleicht bin ich zu 
    unbedeutend, vielleicht ist meine Geschichte nicht interessant für die 
    Leute“.
 
 Herbert P. hat keine Lust mehr, Fragen zu 
    beantworten. Das Gespräch dauert schon länger als zwei Führungen. Für das 
    Foto stellt er sich noch schnell neben seine Zelle 29. Das hat er schon oft 
    gemacht. „Das mache ich solange, bis ich umfalle.“
  
    
 
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